Pink Flower

Wie viel Aufmerksamkeit braucht mein Kind? (Teil 3)

Anastasia Bestmann

Aug 13, 2024

Wie viel Aufmerksamkeit braucht ein Kind wirklich?

Egal, wie viel Aufmerksamkeit wir am Vortag dem Kind gegeben haben, das Fass an Aufmerksamkeit wird über Nacht komplett geleert und das Kind wacht mit viel Hunger nach Aufmerksamkeit morgens auf und möchte das Fass den Tag über voll bekommen. Man hat das Gefühl, dass es ein Fass ohne Boden ist - das Kind könnte den ganzen Tag sagen: "Schau, Mama! Guck mal!" Denn das ist für das Kind die Versicherung für seine/ihre Existenz.

Die Frage nach Quantität - wie lange soll man dem Kind Aufmerksamkeit schenken? - ist sehr individuell. Aber sicherlich braucht es einige/mehrere/viele Minuten am Tag, in denen ich mein Kind und nur mein Kind sehe. Es ist sicherlich hilfreich, die Aufmerksamkeit über den Tag zu verteilen. Es ergeben sich viele Gelegenheiten während des Tages dazu, wenn wir es schaffen, nicht im Funktionieren-Modus zu sein. Morgens zum Beispiel können wir das Kind nicht nur als ein "Objekt" des Anziehens, Zähneputzens, InDieKitaSteckens sehen, sondern auch das Individuum dahinter.

Die Frage nach Qualität ist ebenfalls sehr individuell: "Sehe ich das Kind nur dann, wenn es mich auffordert zu schauen oder will ich es auch selbst sehen? Erfreue ich mich an dem "Sehen" in Momenten, an denen es nicht danach fragt und es nicht erwartet? Schaffe ich es wirklich da zu sein, ohne Ansprüche, Wünsche und Vorstellungen auf mein Kind zu projizieren?"

Meistens hat man am Ende des Tages ein verlässliches Bauchgefühl darüber, ob man "ausreichend" Aufmerksamkeit geschenkt hat. Dieses Bauchgefühl ist vor allem wertvoll, um das bodenlose Fass zu schließen. Ja, Kinder werden unendlich nach Aufmerksamkeit fragen, weil sie sie wollen (wie eine Droge), aber sie brauchen sie nicht! Und wenn wir uns sicher sind, dass wir normalerweise qualitativ und quantitativ ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt haben, dann können wir die übermäßigen Rufe nach Aufmerksamkeit mit gutem Gewissen abschlagen bzw. ignorieren. Zu viel Aufmerksamkeit ist nicht gesund und sendet falsche Signale wie:

  • "Die ganze Welt steht dir zu Füßen" 

  • "Immer, wenn du mich brauchst, bin ich für dich da" (auch, wenn es wünschenswert wäre, sind wir ehrlich, wir können es nicht leisten) 

  • "Alle werden immer alles stehen und liegen lassen, wenn du etwas brauchst"

Mit diesen Einstellungen wird das Kind sich nur schwer in der Welt da draußen zurechtfinden, daher sollten wir es nicht vermitteln.

Aus meinem Alltag gesprochen: Es gibt Tage, an denen wir nur einige Momente von "gesehen werden" erleben und keine 1:1 Zeit. Aus meiner Erfahrung gewinnt wie immer die Regel "Qualität vor Quantität". Dennoch darf eine gemeinsame Zeit nicht zu oft fehlen, sonst wird die Qualität nicht glaubwürdig "Du siehst und schätzt mich zwar sehr, Mama, aber Zeit verbringen willst du mit mir nicht?".

Wann hat ein Kind ein erhöhtes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit?

Es gibt Kinder, die viel Aufmerksamkeit brauchen und Kinder, die weniger Aufmerksamkeit brauchen. Manche Kinder, die den Anschein machen, wenig Aufmerksamkeit zu brauchen, z.B. die "Angepassten" (s. o.) brauchen sie genau so - verdrängen aber das Bedürfnis, um nicht zu Last zu fallen. Es gibt mehrere Gründe, warum ein Kind ein erhöhtes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit hat:

  • mein Kind ist verunsichert

  • mein Kind sucht Stabilität

  • mein Kind spürt sich selbst nicht

  • mein Kind lässt sich leicht von äußeren Faktoren ablenken (weil, es nicht bei sich ist)

  • mein Kind weiß nicht, was es will

  • mein Kind kann nicht vertrauen

Was braucht es, damit ein Kind fühlt, dass er/sie ist?

Es gibt die bekannte Methode der 1:1-Zeit oder Eltern-Kind-Zeit. Diese beinhaltet Folgendes: Man sollte seinem Kind während des Tages eine dedizierte 1:1-Zeit widmen. Du kannst es formlos gestalten (z. B. einfach sagen: "Lass uns spielen") oder du kannst die Zeit benennen (z. B. sagen: "Jetzt ist Mama-Timo-Zeit"). Dabei musst du folgende Regeln der 1:1-Zeit beachten:

  1. Schalte für mind. 15 Minuten alle äußeren Störfaktoren aus (Handy aus, Tür zu usw.)

  2. Dein Kind darf bestimmen, was gespielt oder unternommen wird (ausnahmslos)

  3. Lasse dich auf die Spielregeln des Kindes ein (ausnahmslos)

  4. Wenn die Zeit vorbei ist (entweder nach der Uhr oder nach deinem Gefühl, dass es eine “runde Sache” war) sage so etwas wie: "High five, es hat Spaß gemacht!"

An sich ist die Methode richtig und gut. Ich brauchte jedoch etwas Zeit, um sie in meinen Alltag zu integrieren. Hier teile ich gerne meine Erfahrungen zu den einzelnen Punkten:

Zu 1. Auch wenn wir alles ausschalten, ist noch nicht gesagt, dass wir gedanklich da sein können. Und manchmal können wir das in dem Moment nicht. Und das ist ok. Dafür gibt es andere Zeiten am Tag, an denen wir wie verzaubert unser Kind anschauen können und uns einfach darüber freuen, dass er/sie da, bei uns und auf dieser Welt, ist. Setzte dich also nicht zu sehr unter Druck, genau dann da zu sein, sondern versuche diese Momente während des Tages zu sammeln.

Zu 2. Dieser Punk hat den wunderbaren Nebeneffekt, dass es das Bedürfnis nach Autonomie befriedigt. Bei Aufmerksamkeit geht es auch um die gemeinsam verbrachte Zeit, in der das Kind die Chance bekommt, alle emotionalen Grundbedürfnisse (ich bin, ich kann, ich bin geliebt und ich bin gut) zu erfüllen. Das Kind braucht Zeit, um zusammen zu sein, um einander zuzuhören, um sich in die Augen zu schauen, um gemeinsame Erfolge zu feiern, gemeinsam zu lachen, um sich zu zeigen und einander zu sehen, um Dinge zu erleben, die uns verbinden.

Zu 3. Dieser Punk hat den wunderbaren Nebeneffekt, dass es das Bedürfnis nach Akzeptanz befriedigt. Das Bedürfnis nach "so sein dürfen", kann hier ausgelebt werden. Das Kind kann hier nichts Falsches tun, es darf einfach so sein, wie es gerade ist. Es darf das sagen, was es gerade denkt usw.Manchmal, wenn wir uns Zeit füreinander nehmen, passiert kein Momentum. Das Spielen klappt nicht, die Laune ist im Keller, die Aufmerksamkeit ist irgendwie nicht da und wir ärgern uns, weil wir wissen: "Jetzt habe ich mir extra Zeit genommen und wir spielen nicht einmal richtig."Manchmal nehmen wir uns etwas vor, aber das Kind will genau das nicht machen. Wir wollen mit unsrem Kind gemeinsam spielen, aber unser Kind sagt: "Nein, du darfst keine Figur spielen, du sollst nur zuschauen." Spätestens jetzt wissen wir, worum es geht! Unser Kind will gesehen werden.

Mir fiel eine große Last von den Schultern, als ich verstanden habe, dass Aufmerksamkeit schenken so einfach sein kann. Ich muss nichts tun, ich darf zuschauen, das ist mehr als ausreichend. Und wenn sich dann ein Spiel ergibt, umso schöner.

Kinder geben uns oft den Hinweis: Schau, Mama! Guck mal! - dann können wir uns fragen: Habe ich heute schon meinem Kind richtig in die Augen geschaut?

Wir freuen uns, dass unser Kind einfach da ist, ohne irgendetwas zu leisten, zu spielen oder sich auszudrücken. Zum Beispiel kommt der Sohn gerade von der Schule nach Hause. Er steigt die Treppe hoch - nichts Besonderes - aber gleichzeitig es ist besonders, er ist DA! Er steigt Treppe für Treppe, er kommt auf dich zu - einfach so - was für ein Geschenk! Und das ist es wert, innezuhalten und das Dasein anzuerkennen und zu zelebrieren, indem wir innerlich wie staunen: "Ich sehe dich, also bist du. Du siehst mich, also bin ich."

Das bedeutet nicht, dass das Bedürfnis ich bin alle andere Bedürfnisse überschatten soll und DAS wichtigste Bedürfnis ist. Nein, das ist eins der vier Grundbedürfnisse und spielt seine wichtige Rolle in der Entwicklung unserer Kinder. Wir sollten die anderen nicht vernachlässigen, aber auch dieses nicht unterbewerten.

PS: Wichtig finde ich die Idee, dass wir die 1:1 Zeit umdrehen können. Wir als Eltern können und sollen von unseren Kindern erwarten, dass sie auch uns sehen. Das fordern wir schon beim Begrüßen und Verabschieden: "Timo, sage mir bitte "richtig" Tschüs." Aber auch im Alltag können wir sagen: "Ich habe gerade keine Energie, könntest du mich aufladen (Dein Kind umarmt dich, und du zählst bis 100 als wärst du eine Batterie, die gerade geladen wird)." Oder "Ich bin gerade traurig, kannst du mich trösten." Oder "Ich brauche jetzt eine richtige Umarmung. Schenkst du mir eine?".

© Anastasia Bestmann 2024

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