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Gibt es mich überhaupt? (Teil 1)

Anastasia Bestmann

30.07.2024

Dass ich bin, scheint selbstverständlich zu sein. Aber woher will ich wissen, dass es mich wirklich gibt? Ich vertraue meinen Sinnen, insbesondere den Augen: Hier sehe ich meinen Körper, also hier bin ich. Es ist so offensichtlich, aber auch irgendwie oberflächlich. Denn hinter dem körperlichen Dasein stecken noch weitere Lebensbereiche, die ich nicht sehen, hören oder ertasten kann: Psyche, Seele, Geist, Energie u.a.?

Wenn ich anfange über Existenz zu sprechen, wird es schnell philosophisch und ich habe das Gefühl, dass es keine Relevanz für mein aktuelles Leben hat. Doch wenn ich dies nicht tue, birgt das Thema im Alltag ein hohes Potenzial an emotionalen Problemen:

  • Streit, Konflikte, Machtkämpfe

  • Starke negative Gefühle & Gefühlsausbrüche

  • Verlust von Lebensenergie

  • Gefühl von Leere und Verzweiflung

  • Verlust von emotionaler Bindung

Im Laufe des Lebens hinterfrage ich regelmässig mein Dasein, weil ich mich nicht immer und nicht so gut selbst spüren kann. Wenn alles gut lief, lerne ich im Kindesalter mich zu spüren, und zwar dadurch, dass mich andere Menschen, insbesondere meine Eltern, wahrnehmen. Das emotionale Grundbedürfnis ich bin sagt also: Ich brauche die Aufmerksamkeit meiner Mitmenschen, ich will gesehen werden.

Denn wenn mich keine*r sieht, drängt sich die Frage auf:

Gibt es mich überhaupt?


Gibt es mich überhaupt?

Ich kann nicht ohne die anderen. Durch die anderen erfahren ich mich selbst. Am Anfang meines Lebens bin ich eins mit meiner Mama. Am Anfang meines Lebens gibt es mich als Individuum nicht. Mit 18-24 Monaten fange ich an zu erkennen, dass ich eine eigenständige Person bin. Ich muss mich durch Feedback meiner Umwelt vergewissern: Bin ich wirklich da?

Beispiel 1: Stelle dir als Erwachsene*r die folgende Situation vor: Du bist zu Hause und gehst in die Küche. Du sagst etwas zu deiner*em Partner*in und sie/er reagiert nicht. Du denkst dir nichts dabei und gehst ins Bad. Du bittest deinen Sohn, seine Wäsche in den Wäschekorb zu legen und er ignoriert dich. Du läufst durch die Wohnung und keiner beachtet dich. Die Tochter geht aus dem Haus und verabschiedet sich von allen nur nicht von dir. Dann würde in dir der Gedanke steigen: "Ich spüre mich und ich sehe mich, aber jetzt bin ich mir nicht sicher: Vielleicht gibt es mich gar nicht? Oder hier will mich keiner haben, vielleicht bin ich hier falsch?" Was würden wir tun, um es herauszufinden? Wir würden lauter werden, körperlich näher treten, mehrmals nachfragen, um endlich ein Feedback zu bekommen.

Beispiel 2: Stelle dir als Erwachsene*r die folgende Situation vor: Morgens ist es deine Aufgabe Frühstück für die ganze Familie vorzubereiten. Alle Essen am Tisch und unterhalten sich, doch du bist dafür zuständig, immer Tee nachzugießen, die Brot-Boxen für die Kita zu machen und Brote nachzuschmieren, falls noch jemand will. Jeder nimmt deine Aufgabe für selbstverständlich und hat sonst kein Interesse an dir als Person. Später auf der Arbeit geht es ähnlich zu. Du hast deine Aufgaben, die du erledigst und jede*r wendet sich an dich nur, wenn er oder sie etwas von dir brauchen. Du hast eine Funktion und mehr nicht. Was in dir vorgeht, interessiert niemanden, deiner Meinung zählt nicht und keiner fragt dich nicht, ob du in die Kantine mitkommen willst.

Aus diesen zwei sehr unrealistischen und extremen Beispielen wird klar, wie das Gefühl "Ich bin mir nicht sicher, ob es mich gibt" in einem Kind entstehen kann. Kinder fangen dann an sich auffällig zu verhalten, wenn Eltern ihr Bedürfnis nach Aufmerksamkeit zum Beispiel wie folgt verletzen:

  • Eltern ignorieren die Bitten des Kindes, indem sie alles nur so tun wollen, wie sie es für richtig halten.

  • Es gibt keine Zeit an Tag, in der die Eltern das Kind einfach sehen, ohne etwas von ihm/ihr zu wollen.

  • Wenn die Eltern das Kind nur im Zusammenhang mit einer Aufgabe/Funktion - Zähne putzen, lesen, Hausaufgaben, spielen - sehen und ansprechen.


Was ist Aufmerksamkeit?

Altes Verständnis: "Mein Kind braucht Aufmerksamkeit"

Die klassische Vorstellung von Aufmerksamkeit ist, dass man sich jemanden widmet, sich mit ihm/ihr beschäftigt, sich Zeit nimmt und sich in das Leben oder Tätigkeiten des anderen aktiv einbringt. Das heißt, um jemanden Aufmerksamkeit zu schenken, müssen wir etwas tun. Oft sind Eltern gereizt, wenn das Kind die fehlende Aufmerksamkeit durch bestimmte Verhaltensweisen herausfordert:

  • mein Kind braucht ständig Aufmerksamkeit

  • mein Kind nörgelt

  • mein Kind springt vor der Nase rum

  • mein Kind mischt sich immer ein

  • mein Kind lässt mich nicht los.

Neues Verständnis: "Mein Kind will gesehen werden"

Bei dem Bedürfnis ich bin geht es also um die reine Bestätigung der Existenz, also um das gesehen werden. Es geht nicht um das "Anerkennen und gut heißen von dem wie du bist" (dann geht es um Akzeptanz). Es geht um das Sehen, Spüren und Bestätigen, dass du einfach da bist: "Schön, dass es dich gibt". Ich schaue dich an, egal was du gerade machst und ich erfreue mich deines Daseins. Hieran kann man so gut verstehen, warum Kinder uns auffordern ihnen einfach nur bei Ihrem Spiel zuzuschauen. Diese Botschaften können wir unseren Kindern und Mitmenschen senden:

  • ich sehe dich

  • ich freue mich, dass du da bist

  • wie schön, dass du hier bist

  • ich genieße es, mit dir zusammen zu sein

Diese einfachen Sätze haben die Kraft mein Leben jeden Tag lebenswerter zu machen. Probiere es aus ;)

Wie Kinder um Aufmerksamkeit kämpfen und was die möglichen Coping Strategien sind, habe ich im Teil 2 Ja, ich brauche viel Aufmerksamkeit beschrieben.

© Anastasia Bestmann 2024

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