Teal Flower

Ja, ich brauche viel Aufmerksamkeit! (Teil 2)

Anastasia Bestmann

12.08.2024

Kampf um Aufmerksamkeit

Das emotionale Grundbedürfnis ich bin hat zur Konsequenz, dass ich Aufmerksamkeit meiner Mitmenschen brauche (s. Ich bin: Emotionales Grundbedürfnis). An einem Beispiel mit Kindern kann man diesen emotionalen Zustand am besten veranschaulichen. Wenn sich Kinder nicht gesehen fühlen, kann es bei ihnen ein großes Unbehagen auslösen. Denn sie sehen sich in ihrer Existenzgrundlage bedroht: Wenn mich keine*r sieht, drängt sich die Frage auf "Gibt es mich überhaupt?" Deswegen fordern sie die Aufmerksamkeit mit allen ihren zur Verfügung stehenden Mitteln:

Beispiel (s.u. Bild): Lisa war den ganzen Tag in der Kita und als sie nach Hause kommt, hat keine(r) Zeit für sie. Lisa bekommt das unschöne Gefühl: "Keine(r) sieht mich. Keiner braucht mich, ich fühle mich allein." (s.u. Punkt 1) 

Lisa setzt alle ihre Kräfte in Bewegung, um ihren bedrückenden Gefühlszustand zu beheben: Sie quengelt, springt vor der Nase rum, will ständig irgendwas (s.o. Punkt 2). 

Wir bewegen uns im Bild eine Etage tiefer zu den Gefühlen und Reaktionen der Eltern (gelb). Wir nehmen an, dass der Vater irgendwie beschäftigt ist und wenn Lisa ihm ständig dazwischen kommt, wird sich der Vater genervt fühlen (s.o. Punkt 3).

Je nachdem in welcher Verfassung der Vater ist, wird er auf Lisa reagieren, indem er Lisa überredet aufzuhören oder anfängt zu drohen: "Wenn du nicht sofort aufhörst, dann ..." (s.o. Punkt 4). 

Als Reaktion auf Papas Verhalten fühlt sich Lisa bestätigt, dass sie durch Nörgeln zwar negative, dennoch Papas Aufmerksamkeit bekommt (s.o. Punkt 5). 

Der Kreis schließt sich und Lisa führt das Spiel mit Punkt 2 weiter. An dieser Stelle können nur die Erwachsenen den Teufelskreis unterbrechen, indem sie die negative Spirale erkennen und ihre Reaktion ändern.


Wenn ein Mensch nicht fühlt, dass er ist

Wenn der Kampf für Aufmerksamkeit für Kinder negativ ausgeht, das bedeutet, dass das Kind immer wieder die endgültige Message bekommt: "Lass mich in Ruhe, nerve nicht!" mit der versteckten Botschaft: "Ich brauche dich nicht, d.h. ich wünschte, du wärst nicht da.", dann geben wir dem Kind, dass Gefühl, dass allein sein/ihr Dasein nicht ausreicht, um genug zu sein. Seine Existenz braucht ein Grund. Das Kind wird sich den Anforderungen anpassen und wird versuchen, unterschiedliche Strategien anzuwenden, um doch noch seine Daseinsberechtigung zu rechtfertigen.

  1. Verzweifelte Strategie "mehr bringt mehr": Das Kind wird noch lauter, nerviger, aufdringlicher, noch anstrengender

  2. Verzweifelte Strategie "negative Aufmerksamkeit ": Das Kind benimmt sich schlecht, weigert sich, macht das Gegenteil von dem, was es soll, provoziert, ärgert

  3. Verzweifelte Strategie "Anpassung ": Das Kind versucht ganz besonders zu gefallen und passt sich extrem an, um Lob zu bekommen und es anderen Recht zu machen. Als Erwachsene*r entwickelt er/sie später Perfektionismus und stellt hohen Anspruch an sich.

  4. Kämpferische Strategie "Leistung ": Definiert sich durch Leistungen in der Schule, im Sport oder später als Erwachsene*r über die Arbeit.

  5. Resignierte Strategie "Krankheit ": Das Kind entwickelt Krankheiten, damit sich andere mit ihm beschäftigen

  6. Resignierte Strategie "Verschwinden ": Das Kind glaubt fest daran, dass es keinen Platz für sie/ihn auf dieser Welt gibt und versucht es durch körperliches und geistiges Verschwinden oder Selbst-Vernichten zu beweisen. Dazu zählen passiv aggressives Verhalten, Depression, Apathie, Selbstverletzungen sowie Entwicklung von Magersucht bis hin zur Suizidgefährdung. Auch Selbstschädigung durch Suchtverhalten wie Alkoholkonsum zählen dazu. 

Je nach Persönlichkeitstypen wählt jedes Kind seine eigene Strategie. Dabei ist es dem Kind egal, ob die Aufmerksamkeit, die es bekommt, positiv oder negativ aufgeladen ist: "Hauptsache, jemand sieht mich, denn das bedeutet Überleben". Deswegen scheuen manche Kinder nichts. Sie nehmen Streit und Ärger in Kauf, denn das alles ist nicht so existenziell wichtig, wie zu wissen, dass ich bin: "Ich ertrage lieber Schläge und ertrage Geschrei, aber ich ertrage nicht zu wissen, dass ich nicht bin, denn das bedeutet, dass ich tot bin".

"Wenn meine Eltern es schaffen, sich an meiner puren Existenz zu erfreuen, wie ich hier so sitze und nichts tue - dann schaffe ich es auch anzuerkennen, dass auch mir ein Platz zusteht auf diesem Planeten. Hier bin ich richtig. Dann schaffe ich es auch zu verstehen, dass ich um mein Dasein nicht kämpfen muss."

Wie viel Aufmerksamkeit Kinder wirklich brauchen und wie wir Aufmerksamkeit im Alltag schenken können, schreibe ich im Teil 3 Wie viel Aufmerksamkeit braucht mein Kind wirklich?

© Anastasia Bestmann 2024

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